Die Krankheit verändert auch die Angehörigen
Anrührendes Theaterstück zum Thema Demenz – Anerkennung für alle in der Pflege engagierten Menschen
Waging am See. / Otting. „Damals waren alle jung, heut ist es umgekehrt“: Diese ihre Erkenntnis stellt Mutter Martha (Christine Reitmeier) in den Raum, als sie von einem verrückten Seniorennachmittag nach Hause kommt, zu dem sie ihre Tochter Hanna (Liza Riemann) begleitet hat. Sie hat dabei etwas über die Stränge geschlagen – Anlass zu einem Rückblick in alte Zeiten mit für die Tochter erstaunlichen und lustigen Episoden. Heiter und ein bisschen verrückt beginnt das Theaterstück „Ich erinnere mich genau“, in dem die Geschichte einer Mutter-Tochter Beziehung erzählt wird, die durch die Demenz-Erkrankung der Mutter auf eine harte Probe gestellt wird.
150 Besucher kamen zu dieser Aufführung, die vom Diakonischen Werk organisiert worden war, ins Gasthaus Oberwirt in Otting, wie Kurt Schmoll, der Fachbereichsleiter Seniorenhilfe bei der Diakonie, erfreut feststellte. Sollte doch dieser kostenlose Theaterabend all jenen, die sich in der Pflege engagieren, ob hauptberuflich oder als Angehörige, Dank und Anerkennung für ihre schwere Arbeit sein. Und sie alle werden Aspekte und Erlebnisse ihrer Arbeit in dem Theaterstück wiedererkannt haben. Wie ganz am Anfang der Demenzerkrankung Dinge plötzlich „Füße bekommen“, also nicht mehr da sind, wo sie eigentlich sein sollten. Wie „das, was in der Jugend passiert ist, immer präsenter wird, je älter man wird“. Wie die immer häufiger werdenden Aussetzer „über das normale Maß an Starrsinn hinausgehen“, das der jeweiligen Person schon immer zu eigen war. Wie die Angehörigen den „traurig-verständnisvollen Blick des Halbgottes in Weiß“ schier nicht mehr ertragen können.
All dies ist noch nicht so schlimm, führt sogar des öfteren zu ganz lustigen Szenen, wie Martha und Hannah liebevoll und gut nachvollziehbar auf der mit nur wenigen Requisiten ausgestatteten Bühne nachspielen. Aber Hannah weiß natürlich auch, dass das alles nicht so bleiben wird. Und entgegen dem Rat des Arztes, der ihr gleich die Hochglanz-Broschüre einer Seniorenresidenz in die Hände drückt, will die Tochter dafür sorgen, „dass die Mutter ihre letzten Jahre würdevoll und friedlich verbringen kann“.
Irgendwann aber merken beide, dass das eine große Herausforderung wird. Die Mutter hadert voller „grässlich furchtbarer Angst“ mit Gott: „Ich kann mich doch so meinem Kind nicht antun. Das kannst du doch nicht wollen, Gott.“ Aus der lockeren Pflege und dem gelegentlichen Aufpassen wird dann eine tagesausfüllende Aufgabe. Mehr und mehr ist die Beziehung der beiden von Bockigkeit und üblen Launen geprägt. Die Mutter verbringt immer mehr Zeit im Bett, muss immer öfter gefüttert werden. Die Aussetzer der Mutter nehmen von Mal zu Mal gravierendere Ausmaße an. Bis die Situation eines Tages so kulminiert, dass die Tochter nach ihrer Mutter schlägt.
„Das Schlimmste ist“, resümiert daraufhin die Tochter in ihren gelegentlichen Reflexionen an eine Freundin, „dass die Krankheit auch die Angehörigen verändert.“ Mit sarkastischen Bemerkungen werden die Pflegestufen-Problematik und gelegentliche Unzulänglichkeiten der Pflegedienste bedacht. Schließlich aber, nach bedrückenden Szenen einer völligen Auflösung der Persönlichkeit, kommt das Ende. Am Totenbett gelingt es der Tochter schließlich doch wieder, versöhnlich von der Mutter Abschied zu nehmen.
Mit viel Einfühlungsvermögen und eindrucksvollem Mienenspiel vermittelten die beiden Schauspielerinnen einen anrührenden Einblick in den Verlauf der Demenzerkrankung. In der nachfolgenden Gesprächsrunde berichtete Schauspielerin Christine Reitmeier, die zusammen mit ihrer Kollegin Liza Riemann schon im vierten Jahr mit diesem Stück unterwegs ist und die verschiedenen Stadien ihrer Rolle großartig verkörpert, wie die Menschen davon oft sehr berührt seien, dass nicht selten Tränen fließen, dass sich durch das Gesehene interessante Gespräche entwickeln, dass aber manchmal auch Besucher den Raum verlassen, weil sie es nicht mehr ertragen können.
Dr. med. Marianne Gerusel-Bleck, Leitende Ärztin der geriartrischen Reha in Trostberg und Traunstein, lobte die realistische Darstellung der einzelnen Krankheitsphasen. Schön sei dabei herausgearbeitet worden, wie wichtig gerade Musik ist. Und der gleitende Übergang vom Altersstarrsinn zur Demenz sei in der Tat schwer zu erkennen. Als mögliche Formen einer gewissen Vorbeugung nannte sie, sich nicht zu sehr von Routine vereinnahmen zu lassen, mal auch über die Stränge zu schlagen, sich für Literatur und Musik zu interessieren, den Einkaufszettel auswendig zu lernen.
Beate Hamm, gerontopsychiatrische Fachkraft und Pflegedienstleitung bei der Diakonie, selbst betroffene Angehörige, stellte auf eine entsprechende Frage von Gesprächsleiter Sepp Ramstetter von der Diakonie fest, dass sie beim Spagat zwischen ihrer Fachlichkeit und der Pflege und Betreuung an ihre emotionalen Grenzen stoße. Und Kurt Knebel, der Initiator des „Seniorengarten Auszeit“ des evangelisch-lutherischen Gemeindevereins Traunreut, schilderte, dass in diesem ehrenamtlichen Projekt demenzkranke Menschen an drei Terminen pro Woche betreut werden, um Angehörige zu entlasten. Knebel sprach von „sehr netten Erfolgen“, die sich durch das gemeinsame Spielen, Singen, Puzzeln und andere Beschäftigungen ergeben würden. Und er stellte auch fest, dass sich die Familien oft sehr schwer täten, ihre Angehörigen wegzugeben: „Dann ist es oft schon zu spät.“
Text und Bilder: Hans Eder