„Leben in einem ewigen Augenblick!“
Referent Erich Schützendorf versprach eine Reise von „Normalien ins Anderland“. Viele kleine Details der Interaktion mit Menschen mit einer demenziellen Erkrankung wirken auf den ersten Blick unerklärlich. Weshalb beginnt eine Frau in hohem Alter plötzlich damit, mit dem Glas Wasser zu spielen, bis alles verschüttet ist? Wieso möchte sie den Bademantel als Ballkleid anziehen? Ob sich die Welt eines demenzkranken Menschen denn jemals verstehen lässt, fragt sich wohl jeder einmal im unmittelbaren Kontakt mit Betroffenen.
Erich Schützendorf tritt als typische rheinische Frohnatur auf. Er imitiert Verhaltensweisen, Gesten und Aussagen Demenzkranker und tritt damit in Interaktion mit den rund 50 Besuchern der Veranstaltung im Seniorenzentrum Wartberghöhe der Diakonie. In diesen Rollen macht er scheinbar verrückte Dinge und lacht auch noch darüber. Unvermittelt sagt er: „Ich bin 68 Jahre alt und ich kann Ihnen versprechen: Mit zunehmenden Alter werden wir nicht anders. Nur schlimmer!“ Sein Rollenspiel und die Beispiele aus der Praxis erzeugen beim Zuhörer eine innere Bereitschaft, die Perspektive zu wechseln und sich zu überlegen, ob es sich als demenzkranker Mensch wohl tatsächlich so anfühlt, wie er es beschreibt. Im Gepäck hat Schützendorf viele Fotos, Filme und reale Begebenheiten. Seit über 40 Jahren beschäftige er sich intensiv mit dem Thema Demenz, erzählt er den Zuhörern. Erste Erfahrungen sammelte er in der Ursprungsfamilie. Der liebevolle Zugang zum Thema Demenz entstand vermutlich durch seine demenzkranke 80-jährige Lieblingstante Cordula. Richtiggehend „infiziert“ habe ihn jedoch eine Vorlesung der Professorin Ursula Lehr, die als Gerontologin der ersten Stunde gilt.
Der Unterschied zwischen „Anderland“ und „Normalien“
Den großen Unterschied zwischen „Anderland“, der Welt demenzkranker Menschen, und „Normalien“, der Welt der rational denkenden und handelnden Menschen des Alltags, erklärt Erich Schützendorf mit dem Begriffspaar „dionysisch“ und „apollinisch“, das die beiden Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Friedrich Nietzsche prägten. Während die dionysische Lebenswelt für eine gefühlsbetonte, spielerische, lustvolle, rauschhafte und zweckfreie Welt stehe, bestehe die apollinische Welt aus rationalem, maßvollem, funktionalem und ausgeglichenem harmonischem Handeln. In der Begegnung von Dementen und Nichtdementen führten diese beiden Welten zu grundlegenden Missverständnissen. Schützendorf erklärt dies anhand von Beispielen. Eine demenzkranke Frau sitzt am Esstisch. Plötzlich nimmt sie ein Wurstblatt in die Hand, prüft abwägend Form und Konsistenz, und beginnt damit, mit dem Wurstblatt ihre Brille zu putzen. Zufrieden setzt sie nach getaner Arbeit die Brille wieder auf. Ihre Tochter kommt ins Zimmer, nimmt entsetzt die Brille ab und beginnt sie zu putzen. Die Tochter ist irritiert, weil niemand einschritt. Zwischen Tochter und Personal entbrennt ein Gespräch, ob die Brille zunächst nicht einfach so hätte belassen werden können. „Unsere Aufgabe ist die eines Ethnologen und Reisebegleiters“, sagt Schützendorf, „wir achten und akzeptieren die dionysische Lebenswelt demenzkranker Menschen, sorgen selbst aber für apollinische Ordnung, wo nötig.“ Wo die Grenze zwischen gewähren lassen und Einschreiten liege, könne oft erst in der Situation entschieden werden. Gelinge es, demenzkranken Menschen in ihrer dionysischen Lebenswelt auf Augenhöhe zu begegnen, so entstehe Wohlbefinden. Fragen, Handlungsanweisungen oder rationales Überzeugen führe hingegen zu Unbehagen, Unruhe und sogar Aggression. Bei Gefahr, zum Schutz oder Selbstschutz müssten Pflegende jedoch rational und gegen den Willen der betreffenden Person handeln. Folglich könne hier auf eine Weigerung keine Rücksicht genommen werden. Danach gelte es jedoch, sich wieder zu versöhnen. Weiterhin gebe es unendlich viele Dinge, die mit etwas Fantasie und mit einfachen Mitteln anders oder besser geregelt werden könnten. Fragen sprechen beispielsweise immer die Ratio an und führen Demenzkranke in eine apollinische Lebenswelt, die sie nicht mehr erreichen können. Die Folge seien meist Verwirrung und Unbehagen. Schützendorf schildert das Beispiel eines demenzkranken Bewohners, der in seinem Leben ein großer Charmeur war und es liebte, mit Frauen zu flirten. Er betritt den Frühstücksraum und sagt zu der Pflegekraft: „Guten Morgen, schöne Frau.“ „Möchten Sie heute Käse oder Wurst, Herr Schmidt?“, ist die Antwort. Wie anders würde sich dieser fühlen, wenn er als Antwort beispielsweise „Oh, Herr Schmidt, mit Ihnen könnte ich durchbrennen…“ erhalten würde. „Feenstaub verstreuen“, nennt Schützendorf eine solch gelingende Interaktion zwischen den Welten. Leidenschaftlich wirbt er für ein besseres Verstehen der „Menschen aus Anderland“, selbst in scheinbar ausweglosen Situationen. Auch das demonstriert und erklärt er anhand eines Filmbeitrags. Eine hochbetagte Frau liegt nahezu regungslos im Bett, fällt jedoch durch sehr lautes Rufen auf. Auf Ansprache reagiert sie nicht. „Es ist, als ob sie sich selbst hören muss, um sich sicher zu sein, dass sie noch lebt“, sagt Schützendorf. Eine Pflegekraft beginnt mit langsamen Bewegungen, ihre Haare zu bürsten. Deutlich sichtbar beruhigt sie sich dabei, hört auf zu rufen und achtet auf die Bewegung der Bürste, die durch ihr Haar fährt.
„Ich bin überzeugt, dass ein funktionales Milieu auch zu einem funktionalen Handeln führt“, sagt Erich Schützendorf. Für Menschen mit Demenz sei aber gerade dies oft kontraproduktiv. An Demenz erkrankte Menschen bräuchten keine starren Abläufe, sondern Ruhe, Stille, Passivität, Langsamkeit, Warten. All dies seien wichtige Voraussetzungen für Achtsamkeit. Zudem erlebten demenzkranke Menschen oftmals kleinste Kränkungen aus der Kindheit noch einmal neu und oftmals verstärkt. Für Pflegende gelte es neben aller Achtsamkeit auch sich selbst wahrzunehmen und sich nicht hoffnungslos zu überfordern. „Leben mit Demenz ist wie Leben in einem ewigen Augenblick“, sagte Schützendorf. Bei Pflegenden müsse sich daher ein gezieltes Eintauchen, Sich-Zeit-Nehmen und aktives Begleiten mit einer bewussten „Eigenzeit“ abwechseln. Wo immer dies gelinge, sei es Bewohnern beider Welten möglich, sich über weite Strecken wohlzufühlen.